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Was gilt als Vorfall?

MIA hat den Anspruch antiziganistische Vorfälle umfassend zu dokumentieren. Antiziganismus kann viele Formen haben und von Diskriminierung, über Beleidigungen oder Sachbeschädigungen bis hin zu gewalttätigen Übergriffen reichen.

Hier zeigen wir eine Übersicht über mögliche Ausdrucksformen, um die Einordnung etwas zu erleichtern. Im Zweifelsfalle gilt aber: treten Sie einfach mit uns in Kontakt und wir klären das gemeinsam!

Als Diskriminierung dokumentieren wir antiziganistisch motivierte Benachteiligungen. Diese kann z.B. Folge eines problematischen Verhaltens von Einzelpersonen oder Unternehmen/Organisationen sein, wenn diese Personen aufgrund antiziganistischer Zuschreibungen benachteiligen (z.B. Bedienung im Restaurant, Ladendetektiv, Vermieter…) Diskriminierung kann aber auch institutionell stattfinden, z.B. indem sich das Handeln von Institutionen oder Behörden an ungeschriebenen Regeln und Routinen orientiert (z.B. racial profiling durch die Polizei oder Ausschlusspraktiken im Bildungssektor, Benachteiligungen in Jobcentern oder auf Sozialämtern).

Außerdem erfassen wir Beleidigungen und antiziganistische Zuschreibungen. Diese können sich direkt gegen Personen und Personengruppen oder allgemeiner an die Öffentlichkeit richten. Im öffentlichen Bereich wären das antiziganistische Propaganda, etwa in Reden, auf Plakaten, Aufklebern oder in Form von Schmierereien oder z.B. Fangesänge in Stadien. Antiziganistische Zuschreibungen können dabei auch vermeintlich „positiv“ und romantisierend sein. Ein Beispiel für romantisierende Zuschreibungen wäre z.B. die Behauptung, dass alle Sinti oder Roma musikalisch seien. Problematische Bezeichnungen, wie die Verwendung der beleidigenden Fremdbezeichnung „Zigeuner“ auf Speisekarten oder auf Informationstafeln können gemeldet werden.

Als Sachbeschädigung dokumentieren wir Angriffe auf oder Beschädigungen sowie Beschmutzungen von Orten der Erinnerung an den Völkermord an den Sinti und Roma sowie von persönlichem Eigentum, wenn dieses aufgrund seiner wahrgenommenen Verbindung zu Personen, die von Antiziganismus betroffenen sind, ausgewählt wurde. Darunter fallen Brandanschläge auf Eigentum, bei denen keine Lebensgefahr besteht, oder das Sprühen, Malen oder Schmieren antiziganistischer Slogans oder Symbole an Gedenkorten oder Eigentum von Betroffenen.

Als Bedrohung werden eindeutige und direkt an eine Person oder Institution gerichtete verbale Angriffe in Form der Androhung von Gewalt gegen Personen, Gruppen oder Sachen oder die indirekte bzw. nonverbale Androhung von Gewalt gegenüber konkret Betroffenen.

Als Angriff werden körperliche Angriffe dokumentiert, die keinen Angriff auf das Leben darstellen und keine schwerwiegenden körperlichen Schädigungen nach sich ziehen. Darunter fällt auch der bloße Versuch eines physischen Angriffs, z.B. wenn sich der Angegriffene verteidigen kann bzw. rechtzeitig flüchtet oder der Angriff sein Ziel verfehlt.

Unter extremer Gewalt fassen wir physische Angriffe oder Anschläge, die den Verlust von Menschenleben zur Folge haben können oder einen gravierenden physischen Schaden verursachen können. Darunter fallen Brandanschläge auf bewohnte Gebäude, Bomben, Schüsse, Entführungen oder Messerangriffe.

Ob ein Vorfall antiziganistisch ist, lässt sich manchmal nur feststellen, wenn man die jeweiligen Umstände berücksichtigt. Dafür kann Folgendes Hinweise liefern: Wahrnehmung des Opfers, Wahrnehmung der Zeug*innen, Hintergrund der Täter*innen, Ort des Vorfalls, Zeitpunkt des Vorfalls, benutzte Sprache, Wörter oder Symboliken, Geschichte vorangegangener Vorfälle, Grad der Gewalttätigkeit.

Daher ist es hilfreich, wenn Sie diese Hinweise zur Einordnung des Vorfalles mit angeben.

  1. Wer selbst von Antiziganismus betroffen ist.
  2. Wer Antiziganismus mitbekommt, also z.B. Schmierereien entdeckt, Zeug*in antiziganistischer Beleidigungen oder Übergriffe wird.
  3. Wer Betroffene von Antiziganismus berät und unterstützt.

Arbeitsdefinition Antiziganismus

Mit der Gründung der Melde- und Informationsstelle Antiziganismus (MIA) wurde eine an den deutschen Kontext angepasste Arbeitsdefinition Antiziganismus entwickelt – in Anlehnung an die von den Mitgliedern der International Holocaust Rememberance Alliance (IHRA) am 8. Oktober 2020 angenommene, nicht rechtsverbindliche Arbeitsdefinition zu Antiziganismus, auf die sich auch die Bundesregierung bezieht, sowie mit Bezug auf das 2016 veröffentlichte „Grundlagenpapier Antiziganismus“ der Allianz gegen Antiziganismus und den Bericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus „Perspektivwechsel. Nachholende Gerechtigkeit. Partizipation.“ (2021).

Die folgende Arbeitsdefinition zu Antiziganismus ist daher seit Projektbeginn die Grundlage der Arbeit von MIA:

Antiziganismus beschreibt die gesellschaftlich tradierte Wahrnehmung von und den Umgang mit Menschen oder sozialen Gruppen, die als „Zigeuner“ konstruiert, stigmatisiert und verfolgt wurden und werden. Er richtet sich gegen Sinti und Roma, Jenische oder auch Reisende etc., für die Antiziganismus oftmals eine prägende Erfahrung ist. Sinti und Roma sind als größte Minderheit Europas auch die zahlenmäßig am stärksten von Antiziganismus betroffene Gruppe.

Antiziganismus ist in der Gesellschaft historisch verankert, hat sich über Jahrhunderte entwickelt, dabei verschiedene Formen angenommen und ist heute vorwiegend rassistisch begründet. Antiziganistische Stereotype stützen sich auf ein soziales Konstrukt und lassen bestimmte Eigenschaften als wesenhafte und natürliche Gruppenmerkmale erscheinen. Ein besonderes Kennzeichen antiziganistischer Erzählungen ist es, bestimmte Charakteristika pauschal und unabänderlich zuzuschreiben. Die Ursachen für die Entstehung solcher verallgemeinernden Zuschreibungen liegen in der Dominanzkultur/Mehrheitsgesellschaft begründet.

Antiziganismus zeigt sich in individuellen Äußerungen und Handlungen sowie institutionellen Politiken und Praktiken. In Diskursen werden antiziganistische Vorurteile tradiert, verfügbar gemacht und verfestigt. Ausdruck findet Antiziganismus dann in diskriminierenden Einstellungen, Handlungen und Strukturen, in gewalttätigen Praxen oder Hassverbrechen (antiziganistisch motivierte Straftaten) sowie in stigmatisierendem Verhalten. Antiziganismus tritt aber auch implizit oder versteckt auf: daher ist nicht nur wichtig, was gesagt und getan wird, sondern auch was nicht gesagt oder getan bzw. unterlassen wird. So haben offene oder verdeckte, symbolische oder materielle Ausgrenzungspraktiken sowie institutionalisierte und im Alltag erfahrbare Ungleichheit zur Folge, dass soziale Sicherheit verhindert und ein gleichberechtigter Zugang zu Rechten, Chancen und Teilhabe am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben verwehrt wird.

Antiziganismus dient dazu, Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu stabilisieren, festzuschreiben und zu reproduzieren. Der Mehrheitsgesellschaft bzw. Dominanzkultur nützt Antiziganismus dahingehend, dass sich Hierarchien und der Ausschluss bestimmter Gruppen vom Zugang zu materiellen und symbolischen Ressourcen rechtfertigen lassen, um eigene Privilegien zu verteidigen. Zudem schafft Antiziganismus ein Ventil für individuelle und kollektive Aggressionen (Sündenbock-Mechanismus). Um Antiziganismus zu bekämpfen, müssen antiziganistische Stereotype aktiv hinterfragt und dekonstruiert werden.

Antiziganismus ist tief in sozialen Normen und institutionellen Praktiken verwurzelt, passt sich aber auch sozialen, politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten stets neu an. Er erscheint daher auch immer wieder in neuen Ausprägungen. Heute sind die Erscheinungsformen des Antiziganismus weitgehend von rassistischen Vorstellungen bestimmt. Psychosoziale Merkmale wie deviantes Verhalten wurden vor Jahrhunderten religiös, kulturell oder sozial bedingt konstruiert und als Projektionen festgeschrieben. Im 20. Jahrhundert erfolgte eine Rassifizierung, die im Völkermord an den Sinti und Roma gipfelte.  Nach der NS-Zeit wurden die rassistischen Vorstellungen trotz semantischer Verschiebung – auf Konstrukte wie „Ethnie“, „Abstammung“ oder „Kultur“ – weitergetragen.

Um aktuelle antiziganistische Vorfälle dokumentieren zu können, orientieren wir uns an vier Erscheinungsformen, welche sich im öffentlichen Leben, in den Medien und der Politik, im Kontext von Arbeit, Wohnen und Gesundheit sowie in staatlichen Institutionen (Bildungs­einrichtungen, Verwaltung, Polizei und Justiz etc.) folgendermaßen äußern. Die Erscheinungsformen bzw. die antiziganistischen Stereotype können Verschränkungen zu anderen Machtdynamiken – wie Sexismus, antimuslimischem Rassismus, Klassismus oder Antisemitismus – aufweisen.

Erscheinungsformen:

NS-bezogener Antiziganismus rekurriert auf antiziganistisch motivierte Verbrechen, Politiken u. Praxen während der NS-Zeit. Diese Form dient der relativierenden oder positiven Bewertung der rassistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik und Praxis. Sie äußert sich z.B. in der Leugnung, verzerrte Darstellung, Verharmlosung oder Glorifizierung des Völkermords an den Sinti und Roma oder der Verfolgung von vermeintlichen oder tatsächlichen Angehörigen der Minderheit.

Bürgerlicher Antiziganismus bezieht sich auf die vorherrschenden Werte und Normen der heutigen Dominanzkultur/ Mehrheits­gesellschaft, also auf die normative Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft und deren Legitimierung. Diese Erscheinungsform zeigt auf, wie sich das rechtschaffene bürgerliche Subjekt nicht verhalten darf und stigmatisiert vermeintlich abweichendes Verhalten. Bürgerlicher Antiziganismus kann in folgende Unterkategorien ausdifferenziert werden:

  • Sozialer Antiziganismus bezieht sich auf Abweichungen vom normativ erwarteten sozialen Handeln und äußert sich z.B. in der Stereotypisierung als zur Kriminalität oder Faulheit neigenden Menschen. Frauen wird zudem Promiskuität und schlechte Mutterschaft vorgeworfen.
  • Kultureller Antiziganismus bezieht sich auf das antiziganistisches Stereotyp vom niedrigen Zivilisationsgrad sowie auf stereotype Vorstellungen von Identitäts- und Heimatlosigkeit.
  • Romantisierender Antiziganismus äußert sich in der idealisierenden und verklärenden Umdeutung einer als anders wahrgenommenen Lebensweise, welche als Spiegel/Projektionsfläche für mehrheitsgesellschaftliche Sehnsüchte dient.
  • Religiöser Antiziganismus umfasst vor Jahrhunderten im religiösen Kontext entstandene Vorurteile wie z.B. der Vorwurf, heidnisch-magische oder satanische Kulte auszuüben (Wahrsagen, Heils- und Schadenspraktiken etc.).

Antiziganistisches Othering basiert auf der Konstruktion einer Fremdgruppe im Kontrast zur „Wir-Gruppe“ und liefert damit eine Projektionsfläche für stigmatisierende Zuschreibungen. Othering dient der eigenen Aufwertung durch Abgrenzung/Distinktion von einem imaginierten Objekt, das in der Gesellschaft unerwünschte und normabweichende Eigenschaften oder Verhaltensweisen verkörpert (die nicht konkret benannt sind). Diese Form ist also Grundlage für weitere Zuschreibungen. Hier wird Othering als Kategorie bei Vorfällen verwendet werden, die keine weiteren Rückschlüsse auf konkrete Zuschreibungen zulassen wie z.B. bei antiziganistischen Gesänge bzw. Rufe im Fußballstadion.

Migrationsbezogener Antiziganismus knüpft an das antiziganistische Stereotyp des „fremden, parasitären Eindringlings“ an. Diese Form zielt auf die Verhinderung und De-Legitimierung von unerwünschter (EU-)Migration ab, die als „Armutszuwanderung“ diffamiert wird. Es zeigen sich Parallelen zu sozialem Antiziganismus und Verschränkung mit Klassismus und antimuslimischem Rassismus (z.B., wenn von Clanstrukturen/-kriminalität gesprochen wird).